KALEVALA

Karelianismus und Nationalromantik

Mit der Kalevala-Begeisterung verband sich von Anfang an auch ein besonderes Interesse für den karelischen Hintergrund des Epos. Karelien wurde als Schatzkammer der alten Lieder, als idyllisches Museum der Vorzeit empfunden.

Das romantische Interesse an fernen Zeiten, an der Welt des Kalevala und an Karelien wird in Finnland als Karelianismus bezeichnet. Seine Blütezeit erlebte der Karelianismus in den 1890er Jahren.

Liedersammler und Volkskundler kehrten mit immer neuen interessanten Funden aus Karelien zurück. In Reisebeschreibungen und Zeitungsartikeln schilderten sie ihre Erlebnisse. Vor allem die Künstler unternahmen bald regelrechte Pilgerfahrten nach Karelien; das Kalevala gewann ungeahnte Bedeutung als Inspirationsquelle und als reicher Motivfundus.

Schon bald nach dem Erscheinen des Kalevala stellten die Forscher eindeutig klar, daß das Werk zwar auf echter Volksüberlieferung beruht, daß es sich insgesamt aber um ein von Lönnrot gestaltetes Epos handelt. Für den Karelianismus war jedoch gerade das Kalevala ein Abbild der altfinnischen Wirklichkeit.

In Karelien, in seiner Landschaft und seinen Menschen, glaubten die Karelianer die vergangene Kalevala-Welt wiederzufinden. Diese Vorstellung stand im Einklang mit dem in Europa weitverbreiteten Gedanken, an der Peripherie, isoliert von den Zentren lebende Volksstämme hätten die Lebensweise früherer Epochen unverändert bewahrt.

Die Karelianer gründeten 1919 die Kalevala-Gesellschaft, u. a. in der Absicht, ein Kalevala-Haus als Stätte der künstlerischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Epos zu errichten. Der Architekt Eliel Saarinen legte einen Entwurf vor, doch das Projekt wurde nie verwirklicht. Von Saarinen entworfene Gebäude wie das Nationalmuseum und der Hauptbahnhof in Helsinki lassen den Einfluß des Karelianismus erkennen.

Im 20. Jahrhundert weist die Kalevala- und Karelienbegeisterung starke Schwankungen auf; von Zeit zu Zeit wurde sie offen kritisiert und als sog. Birkenrindenkultur oder als Gegenwartsflucht bezeichnet.

Am Ende des 20. Jahrhunderts ist ein neues Interesse am Kalevala und an der Volksdichtung zu verzeichnen. Der Kreis schließt sich: Reisen in das Land der Kalevala-Dichtung sind heute wieder möglich.

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