KALEVALA

Das Kalevala in der zeitgenössischen Kunst

Das Kalevala interessiert die heutigen Finnen auch wegen seines Inhalts, nicht nur wegen seines Symbolgehalts. Das Epos selbst wie auch die finnische Volksdichtung und Volksmusik überhaupt sind ständig Gegenstand der zeitgenössischen Forschung.

Die 150-Jahrfeier des Alten Kalevala 1985 leitete eine neue Kalevala-Renaissance in der finnischen Kunst ein. Interessant ist dabei, daß das Kalevala von seinem Sockel gehoben und neuer Verwendung zugeführt wurde.

Die zeitgenössischen Künstler begnügen sich nicht damit, die Geschichten des Kalevala neu zu erzählen oder zu illustrieren; vielmehr wollen sie mit Hilfe der mythischen Welt des Kalevala die ewigen Menschheitsfragen, das Geheimnis des Lebens, des Todes, der Liebe und des Überwindens von Krisen behandeln.

Das Kalevala lebt in der finnischen Kultur also weiter. Aus fast zweihundertjähriger Perspektive betrachtet, zeigt sich, daß jede Generation das Epos neu interpretiert hat, von ihren eigenen Voraussetzungen ausgehend, Altes nutzend und Neues schaffend. Das Kalevala ist nicht auf einem Ehrenplatz verstaubt, sondern ist Teil des Alltags wie des Festtags.

Akseli Gallen-Kallelas Aino-Triptychon ist die bekannteste, aber keineswegs die erste vom Kalevala inspirierte bildliche Darstellung des Strebens nach dem Unerreichbaren. R. W. Ekman malte bereits 1864 den uralten Väinämöinen, der nach einer jungen Frau greift, geheimnisvoll und unerreichbar.

Die Frauenzeitschrift Me Naiset hat dieses bereits fest im nationalen Bewußtsein verankerte Motiv in ihrer Werbung genutzt, allerdings in trendbewußter Umkehrung der Rollen. Ebenso hat Mauri Kunnas in seinem Buch Koirien Kalevala [Das Kalevala der Hunde] die traditionellen Rollen vertauscht.

In jüngster Zeit hat Sirpa Alalääkkölä das Aino-Motiv und zugleich die nationalromantische Tradition in ihrem Werk kommentiert und sich damit in die spärliche Schar der Postmodernisten eingereiht, die aus der finnischen Kunstgeschichte schöpfen.

In den 90er Jahren hat das Kalevala den Fotografen Vertti Teräsvuori inspiriert. Seine verschiedene Kunstgattungen vereinende Ausstellung Pre Kalevala sprengt die Grenzen der herkömmlichen Kalevala-Interpretation. Pre Kalevala besteht aus Fotos, Filmmaterial, Schmuck, Objekten, Kleidung u. a. Gezeigt wird eine Welt, in der die Macht des Wortes noch Einfluß auf den Alltag hatte.

1997 gab es nach rund zehnjähriger Unterbrechung von neuen Ideen getragene Theateraufführungen zum Kalevala. So zeichnete etwa die Kalevala-Dramatisierung des Finnischen Nationaltheaters ein neues Bild insbesondere von Väinämöinen, dessen Heldengestalt nun sogar humoristische Züge erhielt. Das Stück suchte nach Berührungspunkten zwischen der im Epos geschilderten Vorzeit und dem heutigen Finnland.

In der vom Kalevala inspirierten finnischen Tonkunst hat die tragische Geschichte Kullervos viele Komponisten, angefangen bei Sibelius, fasziniert. Am Kalevala-Tag 1992 wurde die Oper Kullervo von Aulis Sallinen in Los Angeles uraufgeführt; die finnische Uraufführung fand im November 1993 statt.

Weshalb er gerade Kullervo als Helden wählte, erklärt Aulis Sallinen folgendermaßen: "Diese Geschichte wäre kaum wert, erzählt zu werden, wenn es darin nicht ein Lied gäbe, das über alle anderen herausragt. Dieses Lied ist das Thema der Mutter Kullervos. In der Gestalt des Monsters, des unglücklichen Mannes sieht die Mutter den kleinen Jungen, den sie vor Zeiten verlor, den Knaben mit dem flachsblonden Schopf."

Neben Aino und Kullervo hat das Sampo-Motiv viele Künstler dazu angeregt, sich mit dem Kalevala zu beschäftigen. Die Rätselhaftigkeit des Sampo ist in der Musik vielleicht am eindrücklichsten dargestellt worden.

Der zeitgenössische Komponist Einojuhani Rautavaara stellt in seinem Werk Der Raub des Sampo (1982) Streben, Raub und Zerstörung als Schlüssel zum Rätsel des Sampo dar. Der Verlust des Sampo ist notwendig, damit man erneut nach ihm streben kann. In Rautavaaras Werk werden die Geschichten des Kalevala aus jedem realistischen Kontext gelöst und als sagenumwobenes Spiel dargestellt.

Das Kalevala und seine Geschichten lassen Raum für eine unendliche Vielfalt von Interpretationen. Vielleicht liegt gerade hier der Grund für die bis heute ungebrochene Lebenskraft des Kalevala.

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